von Willi

dieses Mal gibt es kein zurück...

Nun stehe ich wieder hier. Die Füße ganz nah am Abgrund. Vor mir geht es unendlich weit in die Tiefe. Ich stand hier bereits, zusammen mit Max. Damals diskutierten wir, zögerten und haderten, um schlussendlich doch umzukehren. Heute gibt es kein Zögern, alles ist still. Das Ziel geradeaus fest im Blick. Eine schwarze Felsschuppe nicht weit entfernt, jedoch bedarf es allen Mutes sie zu erreichen. Kein zurück, die Arme ausgestreckt und der Körper fällt vornüber...geschafft!

Rudolf Fehrmann bezeichnete diese Stelle im ersten Kletterführer "Der Bergsteiger in der Sächsischen Schweiz" als "ganz außergewöhnliche Lage" sowie ein "breiter und bedenklicher Schritt"1
Zwei Jahre ist es her, dass Max und ich schon einmal vor dieser Herausforderung standen und etwas mehr als 120 Jahre nachdem Albert Kunze zusammen mit Oliver Perry-Smith und Hermann Simon diesen "Schritt" erstbegangen haben und damit die schwere Wandkletterei in der Sächsischen Schweiz einleiteten.

Ihr habt es vermutlich schon erraten bzw. in unserer Tourenliste gesehen. Wir begingen einen der Klassiker des sächsischen Kletterns, den Überfall auf die Esse der Lokomotive. Micha schrieb damals den Blogartikel über unseren abgebrochenen ersten Versuch.
Die letzten zwei Jahre schwirrte besonders Max der Überfall oft durch den Kopf. Auch ich habe immer mal wieder daran denken müssen. Ist es doch eine der ungewöhnlichsten und spannendsten Art und Weisen einen Gipfel zu begehen.

So kam es, dass Max und ich uns einen festen Tag ausmachten das gedankliche Schreckgespenst durch umgesetzte Taten endgültig zu vertreiben. Auch unser geschätzter Seilpartner Micha war, wie damals auch, wieder zugegen. Jedoch sollte er uns nicht über den Überfall folgen. Seine zu kleine Statur entschuldigte ihn von diesem Vorhaben ;) ...nein, er wollte einfach nur die Esse über die leicht anspruchsvollere und schönere Südkante bestreiten.

Ich muss zugeben, dass ich ein wenig aufgeregt war. Der Überfall machte mir bei meiner Größe eher weniger Sorgen, jedoch der folgende Quergang und der Riss. Beides nicht sonderlich von der Pfeife aus einsehbar. Hinzu kam, dass ich schon seit ein paar Wochen klettertechnisch nichts mehr gemacht hatte. Glücklicherweise hatten wir uns kein Wochenende für das Vorhaben ausgesucht und konnten Zuschauer befreit den Weg bestreiten. Die ersten Meter zum Kesselgrat des Lokomotiven-Doms über den Alten Weg stellte schon einmal keine große Herausforderung dar. Auch wenn ich den Riss über dem Absatz wieder einmal merkwürdig finde.
Als ich Max auf den Kessel nachholte, vermied ich es in Richtung Esse zu schauen, um nicht unnötig meine Aufregung zu steigern. Er war es dann, der als nächstes über dem Kessel-Grat auf die Pfeife und dem Schauplatz des heutigen Abenteuers voranschritt. Während er den Standplatz um die Pfeife einrichtete, rief er schon zurück: "sieht gar nicht so weit aus". Dennoch wuchs die Nervosität als ich den Kessel Richtung Pfeife entlang robbte.
Nachdem ich mich daraufhin auf die Pfeife selbst begab, fielen mir direkt zwei Dinge auf:
1. Stimmt, so weit ist es gar nicht.
2. Der Quergang zum Riss ist ebenfalls gar nicht so lang.

Was meinte wohl der Erstbegeher zu dieser besonderen Situation?
Albert Kunze beschrieb seine Pionierleistung am 7. Juni 1903 wie folgt:

"Noch einmal sehe ich mich nach meinem Fahrtgenossen um...Dann tasten sich meine Füße vorsichtig bis an den äußersten Rand der Kluft vor. Drohend gähnt mich die tiefklaffende Schlucht an, und je länger ich zur Essenwand hinüberschaue, um so weiter scheint sie zurückzuweichen. [...] Alles flimmert vor den Augen, im Ohre höre ich das Blut rauschen. Ich muß heraus aus diesem unerträglichen Zustande. Darum säume ich nicht länger, sondern beginne wie vereinbart zu zählen: 'eins'---'zwei'---'drei'---. Es ist etwas zauberhaftes um dieses kleine Wörtlein 'drei', wie ein Ruck fährt es durch den Körper und reißt die Glieder vorwärts, man mag wollen oder nicht, und auf 'drei' trete ich hinaus ins Ungewisse, im selben Augenblick gibt Freund Oliver das Seil nach, mein rechter Fuß schiebt sich und streckt sich vor, so weit er es nur vermag und - o, Jubel! - es gelingt: Drüben an der Esse findet der Kletterschuh halt und ich stehe fest, eine lebende Brücke über dem Abgrund ...(Auf dem Gipfel angelangt)...  Jetzt ist die Esse wirklich unser." 1 2

Das Wichtigste ist wohl nicht zu lang zu warten, einfach machen. Das Ziel geradeaus fest im Blick und schwupps waren schon beide Hände auf der Esse. Der erste Fuß war schnell hinüber gesetzt und ich konnte mich nun sicher spreizend zwischen Dom und Esse sortieren. Es erwarten einem auf der anderen Seite ein schöner Henkel, welcher Platz für eine Schlinge bereithält. Zwar klingt dieser hohl, aber es reicht für einen mentalen Balsam und um sich daran komplett hinüberzuschwingen. Den zweiten Fuß nach zu holen war für mich dann noch einmal ein kleiner Akt und hat länger gedauert als der Überfall selbst. Zum einen vertraut man dem hohlen Henkel dann doch nicht so sehr und zum anderen gibt es danach keinen Weg mehr zurück. Man reißt die Brücke hinter sich ein.
Danach bleibt nur noch die Flucht nach oben, oder besser gesagt zur Seite über den Quergang. Ich persönlich empfand diesen als gewöhnungsbedürftig. Es fehlen schöne Griffe und man muss gut drauf achten wohin man tritt. Dementsprechend war ich froh den griffigen Riss erreicht zu haben, welcher direkt zu Beginn mit super Henkeln und Stellen für 100% haltende UFO aufwarten konnte.
Der Riss selbst ist gängig. Durchweg schöne Griffe und einige Plätze für breite UFOs. Nur der letzte Zug auf den Gipfel war ein anstrengendes, sich aus dem Riss heraus stemmen. Dafür lacht einem direkt zur Rechten die Gipfelbuchkassette an und beglückwünscht einen zur erbrachten Leistung.

Für den Nachstieg von Max zog ich das komplette Seil durch und reichte es ihm von oben. So vermieden wir einen langen Pendelsturz, falls der Überfall schiefgehen sollte.
Auch Max verfolgte erfolgreich die Strategie des schnellen Überfalls. Mit dem sicheren Seil von oben, klebte er in Nullkommanichts auch schon an der Essenwand. Sichtlich erleichtert über seinen Erfolg, waren die nachfolgende Querung und der Riss nur noch Kür für ihn.
Freudestrahlend konnten wir unsere Leistung auf dem Gipfel feiern.
Zum vollendetem Glück fehlte nur noch einer. Micha, der sich schon an der Südkante für seinen Nachstieg über ebendiese vorbereitete. Nach einer kurzen Einweisung hinsichtlich des Wegverlaufes, hörten und sahen wir erst einmal nicht viel von ihm. Jedoch zog Max stetig das Seil ein, was darauf schließen ließ, dass Micha die prinzipiell richtige Richtung einschlug, nach oben. Kurz darauf sahen wir ihn auf den letzten Ausstiegsmetern der Kante. Nun konnten wir zu Dritt das Gipfelglück und die atemberaubende Aussicht genießen und uns im Gipfelbuch verewigen.

Die Sonne war noch längst nicht untergegangen und so beschlossen wir noch die benachbarten Gipfel Storchnest und Bienenkorb einzusammeln. Das hieß zunächst sich wieder einmal durch unwegsames Gelände einen Weg zu diesen Felsgebilden zu bahnen.
Wir entschieden uns jeweils über den Alten Weg aufzusteigen. Schlussendlich waren diese Wege an sich nichts Besonderes, weder klettertechnisch, noch bezüglich der Schwierigkeit. Weswegen wir auch beide fix solo begingen.
Was jedoch besonders war und in Erinnerung bleiben wird, waren die wunderbare Aussicht, der Sonnenuntergang vom Bienenkorb aus und das schöne Gefühl dies mit den besten Seilpartnern und Freunden genießen zu können.

Später stellte sich heraus, dass der Bienenkorb mein 100. Gipfel in der Sächsischen Schweiz ist.

Klassisch, wie bei jeder Feierabendrunde, erfolgt der Rückweg im Dunkeln mit Stirnlampen. Der Pfad führte uns auch wieder an den Honigstein vorbei. Da Max diesen noch nicht auf seiner Liste hatte, entschlossen wir gleich zusammen über den Alten Weg hinaufzuklettern. Welches Grauen uns jedoch erwartete, vermochten wir in unseren kühnsten Alpträumen nicht auszumalen.
Eine Armee abermillionen Flugameisen bewachte den Fels um die Gipfelbuchkassette herum. Gestört durch das Licht unserer Stirnlampen, attackierten sie uns, besetzten jeden Quadratmillimeter unserer Haut und krabbelten übers Gesicht in Nase und Ohren. Wir schnappten uns das Buch und rannten davon. Nachdem sich Max eingetragen hatte, war es an ihm es wieder zurückzulegen. Dafür war es seine 100. Begehung in der Sächsischen Schweiz und wird ihn auf besondere Art und Weise im Gedächtnis behalten.

Bei einem Feierabendbier beglückwünschten wir uns zu unseren Meilensteinen und schmiedeten bereits die nächsten Pläne in unserer geliebten Felsenheimat.

Bleibt also gespannt auf die nächsten Abenteuer mit dem Klub.
Bis dahin alles Gute wünscht

eurer Klub der unverbesserlichen Kletterer

 

 

1: Im Gegensatz zur heutigen vielfach angewandten Praxis sich mit den Händen zuerst vornüber fallen zu lassen, erfolgte die Erstbegehung mittels eines großen Schrittes über den Abgrund. Einige andere springen gar hinüber. In vergangen Jahren galt es sogar als Mutprobe die Esse über den Überfall ungesichert hinauf- und auch wieder hinabzuklettern.  
2: Aus Albert Kunzes Bericht in Nr. 6 der Mitteilungen des SBB 1919

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